Musen

english version ->

Esprit und Eros

Köstlich ist der Musenkuss

„Sage mir Muse die Taten des vielgewanderten Mannes …“- mit dieser Anrufung lässt Homer (ca. 700 v.Chr.) seine „Odyssee“ beginnen. Der blinde Sänger war wohl nicht ganz blind für weibliche Reize, zumindest aber nicht für femininen Esprit.
Neun Musen kannte die Antike: Nymphen, die den Dichtern und Dramatikern, den Geschichtsschreibern und Philosophen wie auch den Astrologen dazu dienen sollten, ihre schöpferischen Fähigkeiten aufzumöbeln. In späterer Zeit haben erlauchte Geister weniger erfolgreich versucht, diese launischen Geliebten durch Alkohol und Drogen zu ersetzen, denken Sie nur an Scott Fitzgerald, William Faulkner oder Truman Capote!
Die erste Frau, die musischer Zuneigung teilhaftig wurde, war die Dichterin Sappho (ca. 630 bis 570 v. Chr.), die bis heute als eine der genialsten Lyrikerinnen aller Zeiten gilt, und die Platon die „zehnte Muse“ nannte. Unbelesene Gemüter kennen sie vorwiegend als Begründerin der lesbischen Liebe, obwohl der Mythos behauptet, sie habe sich aus unerwiderter Leidenschaft zum schönen Fährmann Phaon von  den Klippen des Kaps Leukatas in den Tod gestürzt. Wie viele hoch erotischen Frauen empfand auch Sappho vermutlich bisexuell, was ja manche ihrer Verse belegen. – Eine durchaus nachahmenswerte Neigung, da Bisexualität (wie Woody Allen bemerkt), die Chance auf ein Date verdoppelt.

Im 21. Jhdt. beschert uns der Fortschritt den Komfort, Musen buchen zu können – statt sie anbeten zu müssen. Geschäftsreisende Männer und Frauen, die ihre rare Freizeit dazu nutzen wollen, schöpferisch zu entspannen, lassen sich von einer Muse ins Theater oder Konzert oder zum Dinner begleiten: mit der Option auf eine erotische Offenbarung. Doch davon später mehr*.

Dantes Muse war noch minderjährig

Dante Alighieri (1265 bis 1321), Italiens größter Dichter und Schöpfer der „Göttlichen Komödie“ (La Divina Commedia), entdeckte im Selbstversuch, was Sigmund Freud (1856 bis 1939) bahnbrechend als Sublimierung pries: des Menschen Fähigkeit, seine mächtigste Motivation, den Sexualtrieb, zu künstlerischer oder wissenschaftlicher Leistung  umzupolen. Als Dante die achtjährige Beatrice Portinari zum ersten Mal erblickte, verliebte er sich sofort in sie. Und als die Angehimmelte 24jährig starb, machte er sie mit seinem Werk unsterblich. Angefasst Dante er sie nie, ja nicht einmal angesprochen.

Weniger der hohen Minne verpflichtet waren die Motive eines Mathematik-Tudors an der Christ Church University in Oxford, namens Charles Lutwidge Dodgson (1832 bis 1898), der als Lewis Carroll weltberühmt wurde. Als Muse hatte er sich die Tochter des Dekans von Christ Church auserkoren. Auf einer Bootsfahrt mit Picknick inspirierte ihn die dreizehnjährige Alice Liddell zu wundersamen Geschichten, die später als „Alice im Wunderland“ in Buchform erschienen.  Honi soi qui mal y pense!

„Charles Dodgson einen Pädophilen zu nennen, heißt nicht nur, das Wesen seiner Beziehung zu Alice Liddell falsch zu verstehen und herabzusetzen, vielmehr spricht man dieser Zuneigung ihre Komplexität, ihre Tiefe und ihre absolute Besonderheit ab“, plädiert Francine Prose in „Das Leben der Musen“ (2004).  Doch einige Fotos, mit denen Lewis Carroll uns seine kindlichen Muse vor Augen führt, bezeugen einen weniger gewundenen Sachverhalt. Sie zeigen durchaus eine kleine Verführerin und vielleicht auch Verführte (was ja nicht heißt, dass Dichter und Muse sich zu mehr hinreißen ließen als zu blühender Phantasie). Sagen wir: Es war platonische Liebe.

Alice Liddell, 1859. Foto von Charles Dodgson (Lewis Carroll) ©de.Wikipedia.org
Alice Liddell, 1859. Foto von Charles Dodgson (Lewis Carroll) ©de.Wikipedia.org

Chaplins Muse bekam mit 15 ihr Baby

Kaum als „platonisch“ kann man die Liebe von Lillita McMurray und Charlie Chaplin bagatellisieren. 1924 hatte der „König aller Komödianten“ seine junge Muse geheiratet. 19 sei sie bereits, ließ er die Presse berichten, tatsächlich war sie erst 16, bei ihrer Niederkunft 15. Als Lillita 12 war, hatte Chaplin sie kennengelernt, um einen Filmstar „Lita Grey“ aus ihr zu formen. Doch anstatt mit cineastischen Darbietungen beehrt Charlie sie mit zwei Söhnen. Auch beim zweiten Baby ist sie immer noch minderjährig und der geniale Papa bereits 35. Lillita = Lolita? Man muss nicht lange rätseln, wer wohl Vladimir Nabokovs Vorbild zu seinem sarkastischen Roman „Lolita“ gewesen sein mag.

Weil die Eskapade mit Lillita dem genialen „Tramp“ 1 Million Dollar Abfindung und fast seine Karriere gekostet hatten,  legte Chaplin bei seiner späteren Liebeswahl genaueren Wert auf das Timing. Am 14. Mai 1943 heiratete der damals Vierundfünfzigjährige: Oona, die wunderschöne Tochter des Dramatikers Eugene O’Neill (1888 bis 1953) und Ex-Muse des Schriftstellers Jerome David Salinger (1919 bis 2010), Autor des Bestellers „Der Fänger im Roggen“. Oona O‘Neill feierte just am Hochzeitstag mit Chaplin ihren Geburtstag, sie wurde gerade 18.

Dreizehn Jahre jung war Virginia Eliza Clemm als sie am 16. März 1836 den 27jährigen Edgar Allan Poe (1809 bis 1849) ehelichte, den Erfinder der Horror-Stories. Mit dem Musenkuss beschenkte sie ihren Gemahl Genre-typisch als sie 24jährig verblich: Von Trauer und posthumer Begierde beseelt schrieb Poe seine beiden besten Gedichte: „Annabell Lee“ und „Der Rabe“ (The Raven). Zitat: „Sag, wann dies wunderbare Wesen, Leonor, mir wiederkehr! – Krächzt der Rabe: Nimmermehr!“

 Im Ehe-Käfig verkümmern die Musen

„Hinter jedem großen Mann stand immer eine liebende Frau, und es ist viel Wahrheit in dem Ausspruch, dass ein Mann nicht größer sein kann, als die Frau, die er liebt, die ihn groß sein lässt“, so lautet eine Maxime Pablo Picassos (1881 bis 1973). Ihr bleib er treu, nicht seinen Frauen. Fernande Olivier (1881 bis 1966) war bereits Mutter und Ex-Ehefrau als sie das Genie 1904 in Paris kennenlernte. Ihn inspirierte sie als Aktmodell und Muse bis Picasso 1918 die Ballett-Tänzerin Olga Koklowa heiratet. Marie-Therese Walter, die 1927 seine Geliebte wurde, faszinierte Picasso wohl vor allem, weil sie sein weibliches Ebenbild war, ein knollnasig-kraftvolles Vorbild seiner klassizistischen Schaffens-Epoche. Zugleich war er mit der Fotografin und Malerin Dora Maar (1907 bis 1997) verheiratet, deren künstlerische Entfaltung er eifersüchtig zu verhindern wusste. Häufiger Ehekrach beendete diese Verbindung – und beflügelte Picasso zu den besten seiner Bilder: den „weinenden Frauen-Porträts“ einschließlich seinem monumentalen Mahnmal „Guernica“ (1937), das neben den „Desmoiselles d‘ Avignon“ (1907) zu seinen Hauptwerken zählt.

Ab 1943 ist Francois Gilot für zehn Jahre Picassos Muse. Wie die Jungfrau von Orleans, so resümiert Francoise Gilot diesen Lebensabschnitt, habe sie “Tag und Nacht ihre Rüstung tragen” müssen, um sich zu behaupten. Er ließ sie wissen, eigentlich mache es ihm “mehr Spaß, ins Bordell zu gehen”. Warum hatte sie ihn nicht gleich von der Bettkante gestoßen? “Einem Picasso (so die Gilot) kann man sich auf Dauer nicht verweigern, eine Frau ist Picasso gegenüber machtlos.” Nun denn, der Meister selbst hat sich gern als potenzstrotzender Minotaurus gemalt oder als Kampfstier. 1961, da ist er schon 80, verliebt Pablo sich wieder und  heiratet die 46 Jahre jüngere Schönheit Jacqueline Roque (1927 bis 1986). Wie auch Marie-Therese Walter hat sie das Liebesleben mit dem mythologischen Macho durchaus ertragen, nicht jedoch dessen Tod. Beide Musen huldigten ihm posthum durch Suizid. „Es gibt zwei Arten von Frauen“, spottete der Unsterbliche, „Göttinnen und Hausmeisterinnen“. Musen, die heiraten, bleibt diese Metamorphose oft nicht erspart.

Das musste auch Alma Mahler-Werfel (1879 bis 1964) erfahren, nachdem sie mit 22 den 41jährigen Dirigenten und Jahrhundert-Komponisten Gustav Mahler ehelichte. Früher als die zeitgenössische Wiener Kulturszene hatte die studierte Komponistin gewittert, dass der kleinwüchsige und kränkliche Mahler aus musikalischer Sicht ein Titan war. Doch dieser duldete keine fremden Götter neben sich – schon gar nicht eine Göttin. „Wie stellst Du Dir so ein komponierendes Ehepaar vor?“, polterte er in einem Brief von 1901, „Hast Du eine Ahnung, wie lächerlich und später herabziehend vor uns selbst so ein eigentümliches Rivalitätsverhältnis werden muss?“.  Kurz vor der Ehe hatte Alma den großen Gustav noch zu einem Orchesterwerk inspiriert, das 1901 als Adagietto seiner 5. Symphonie und 1976 als Filmmusik zu Luchino Viscontis „Tod in Venedig“ (Morte a Venezia) den Weltruhm des Komponisten beschleunigen sollte. Doch in der Rolle von Mahlers Eheweib wurde der Muse Alma statt ihres Klaviers ein Kinderbett zur Selbstverwirklichung zugewiesen.

Als Alma 1915 den BAUHAUS-Gründer Walter Gropius und 1919 den Dichter Franz Werfel heiratete, war sie gewitzter und auch älter als ihre Ehemänner, die sich dankbar für ihre Musenküsse zeigten. Schon kurz nach Mahlers Dahinscheiden begann sie 1912 eine stürmische Affäre mit Oskar Kokoschka. Ihm, dem ungeschlachten, jedoch künstlerisch wie sexuell äußerst eindrucksvollen Expressionisten, versprach die sinnenfrohe Alma: „Ich heirate Dich, sobald Du ein wirkliches Meisterwerk malst“. Kokoschka kaufte eine Leinwand, größer als ein französisches Bett, und brachte 1914 tatsächlich das beste Bild seines Lebens zustande: „Die Windsbraut“. Aber Alma dachte gar nicht daran, sich von diesem Wilden ans Ehebett fesseln zu lassen, der vor Eifersucht tobte, der ein Drama mit dem Titel „Mörder, Hoffnung der Frauen“ auf die Bühne brachte, und dessen (freilich nur als Provokation gemeintes) Bekenntnis lautete: „Entweder Herrgott sein oder Verbrecher!“

Doch als  Almas Tochter Manon Gropius 1935 an Kinderlähmung starb, bewirkten ihre tränengetränkten Musenküssen erneut ein kreatives Wunder: Franz Werfel setzte der Siebzehnjährigen ein literarisches, Alban Berg ein musikalisches Denkmal. Ihm gelang mit seinem Violinkonzert das schönste und ergreifendste, was die Zwölftontechnik je hervorgebracht hat.

Cosima Wagner (1837 bis 1930), die Tochter des Komponisten und Klavier-Mephistos Franz Liszt, schien in den Augen Richard Wagners (1813 bis 1883) jene Muse zu verkörpern, die er sich lange ersehnte: hochmusikalisch, klüger als die meisten Frauen und Männer ihrer Zeit, selbstbewusst und energisch. Eine Inkarnation der hl. Elisabeth (aus „Tannhäuser“) und der Isolde (aus „Tristan“) mit der Leidenschaft der Venus – wenn möglich. Doch entwickelte sich Cosima keineswegs zur Aphrodite. Sie entpuppte sich stattdessen als Antisemitin und Wegbereiterin Hitlers, in dem sie einen neuen Wotan wähnte. Dadurch geriet auch der Ruf Richard Wagners, des Intellektuellsten aller Komponisten, auf die denkbar schiefste Bahn.

Welche Wohltat für Wagners Selbstverwirklichung waren dagegen die Musenküsse der Mathilde Wesendonck (1828 bis 1902) einer Dichterin, bei der Wagners kühne Kompositionen und seine heißen Liebesschwüre auf offene Ohren trafen! Richard widmete ihr seine „Wesendonck-Lieder“, deren schönstes (mit dem verfänglichen Titel „Im Treibhaus) der  Heißverliebte zum Leitmotiv seiner Oper „Tristan und Isolde“ erkor (Uraufführung 1865).  Hier findet Wagners Liebes-Bekenntnis zu Mathilde seinen Höhepunkt in „Isoldes Liebestod“, der ersten musikalischen Darstellung eines Orgasmus‘.

Elizabeth Siddal, painting by Dante Gabriel Rossetti 1866 © Tate Gallery London
Elizabeth Siddal, painting by Dante Gabriel Rossetti 1866 © Tate Gallery London

Elizabeth Siddal (1829 bis 1862) widerfuhr das Schicksal, vom ebenso begabten wie versponnen englischen Dichter und Maler Dante Gabriel Rossetti zur Muse der Präraffaeliten auserkoren zu werden, einer Künstlergruppe, die sich die Frührenaissance zum Vorbild nahm. „Lizzie“ war Hutmacherin, entstammte der Arbeiterklasse. Doch angeregt durch ihre Porzellan-weiße Haut, ihr hüftlanges, tizianrotes Haar und ihre elegische Anmut, verwandelten die Präraffaeliten das schlichte Mädchen in eine noble Schönheit aus glorreicher Zeit. Für sie war „Lizzie“ mal Shakespeares Ophelia, mal Beatrice, die jung verblichene Liebe Dantes, mit dem Rossetti (aller Bescheidenheit abhold) sich selbst gern identifizierte.

Als sie 17 wurde und er 22, heirateten sie, erkannten jedoch bald, das Wahn und Wirklichkeit eine schlechte Basis für Eheglück sind. Folglich ertrank er seinen Kummer in Alkohol, sie in Labdanum, einer Opium-Tinktur, an der sie 33järig starb. Rossetti, der auch ein guter Geschäftsmann war, ließ seine Muse samt seiner Sonette begraben und verbreiten, dass sie ihm allnächtlich erscheine. 1869 beorderte er seinen Agenten Charles Howell, das Grab heimlich zu öffnen, seine Manuskripte zu retten und das Gerücht zu streuen, die Leiche der schönen Elizabeth sei noch immer nicht verwest und ihr Haar, das weitergewachsen sei, habe den gesamten Sarg ausgefüllt. Dem nicht genug, schuf der Meister ein neues Meisterwerk: „Beata Beatrix“ (1863-1870) verklärt die Geliebte mal wieder als Dantes Beatrice.

Küssen kluge Musen besser?

Kann Frida Kahlo (1907 bis 1954) als Muse des mexikanischen Malers Diego Rivera (1886 bis 1957) gelten? Oder verlief der kreative Impuls eher umgekehrt?

Zu beider Lebzeiten galt Rivera zwar als Lateinamerikas bedeutendster Maler, Pablo Picasso durchaus ebenbürtig. Doch wenn man heute von ihm spricht, dann meistens vom Ehemann der Frida Kahlo. Als beide 1929 heirateten, war sie eine 22jährige Medizinstudentin, er (doppelt so alt) bereits Mexikos lebendes Nationaldenkmal. Durch einen Straßenbahnunfall, bei dem sich eine Schiene in Fridas Unterleib bohrte, wurde ihr die Mutterschaft auf immer verwehrt. Diego jedoch lehrte sie, trotzdem fruchtbar zu sein: als Künstlerin. Dafür motivierte Frida, die als engagierte Kommunistin galt, ihren Diego zu monumentalen Wandgemälden im Namen Mexikos, der Freiheit und der Partei.

Der Öffentlichkeit erschien sie als das zarte „Täubchen“, er als der „Elefant“, der sie zu erdrücken drohte, und der sie bei jeder Gelegenheit mit anderen Frauen betrog – sogar mit Fridas Schwester Christina. Im Gegenzug ließ Frida, die keineswegs den Keuschheitsgürtel trug, auch ihrer Lust freien Lauf. Zu Ihren Geliebten zählten stets ältere Herren mit Hang zur Unsterblichkeit wie die Dichter André Breton und Pablo Neruda, der Bildhauer Isamu Noguchi, das Film-Genie Sergej Eisenstein, der Kunstsammler Heinz Berggruen wie auch Josef Stalins Gegenspieler Leo Trotzki („Ein stürmisches Weib!“).

Vaginaler Sex blieb der Schmerzensfrau Frida gewiss versagt. Doch finden sich ja, falls Fortpflanzung nicht unbedingt Ziel der Übung sein soll, durchaus raffiniertere Spielarten der Sinnlichkeit. Entsprechend genoss Frida auch die Liebe zu Frauen: u.a. den Filmstars Dolores del Rio und Paulette Godard, sowie der schönen Tina Modotti, Muse des renommierten Foto-Künstlers Edward Weston, die selbst eine bemerkenswerte Foto-Reporterin war. Sicher erinnern Sie sich an die hinreißende Szene in Julie Taylors Spielfilm „Frida“ (2002), in der Salma Hayek (als Frida Kahlo) und Ashley Judd (als Tina Modotti) den erotischsten Tango der Kino-Geschichte aufs Parkett legen.

„Wir sind bloß Lehmklumpen im Vergleich zu ihr. Sie ist die größte Malerin dieser Epoche“, resümierte Diego Rivera. Unzweifelhaft jedoch war das fragile Mädchen in der Tehuana-Tracht eine sehr, sehr starke Frau.

„Lou ist scharfsinnig wie ein Adler, mutig wie ein Löwe und zuletzt doch ein sehr mädchenhaftes Kind“, so beschreibt Friedrich Nietzsche die junge Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé, der er 1882 in Rom begegnete. Wie sein Philosophen-Freund Paul Rée (1849 bis 1901), so war auch Nietzsche (1844 bis 1900) von der 21jährigen russisch-deutsch-dänischen Schönheit zunächst begeistert, dann berauscht und schließlich völlig benebelt. Lou, diese bezaubernde Circe, verstand es, hochgebildet und charmant wie sie war, klugen Männern bis zur Verzweiflung den Kopf zu verdrehen. „Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, dass ich die Vernunft verliere …“ stöhnt der liebestolle Nietzsche. Eine emanzipiert Frau, die nicht verführbar ist, sondern selber verführt, war für die Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine schockierende Lebenserfahrung. So etwas hatte man bislang nur in der Oper ertragen müssen: in George Bizets „Carmen“ (Uraufführung 1875 in Paris).

„Diese dürre, schmutzige, übelriechende Äffin mit ihren falschen Brüsten – ein Verhängnis!“, tobte Nietzsche wider besseren Wissens und Begehrens. Nahezu gleichzeitig bekennt er seinem Freund Rée: “Wir sind Freunde, und ich werde dieses Mädchen und dieses Vertrauen zu mir heilig halten. – Übrigens hat sie einen unglaublich sicheren und heiligen Charakter“. Lou hatte Nietzsche ja inspiriert, seinen „Zarathustra“ (1883-1885) zu verfassen, der also sprach: „Wenn Du zum Weibe geht’s, vergiss die Peitsche nicht“. Ein Foto aus gleicher Zeit belegt allerdings, dass Lous es war, welche die Peitsche schwang.

Lous Andreas Salome mit Paul Rée und Friedrich Nietzsche, unbekanntes Foto-Atelier, Zürich 1882
Lous Andreas Salome mit Paul Rée und Friedrich Nietzsche, unbekanntes Foto-Atelier, Zürich 1882

Als Lou, bereits 36jährig, in München den 21 Jahre jungen René Maria Rilke kennen lernte, den sie Rainer nannte, umwarb sie den „Schüchternen mit den schönen Augen“ sowohl mit Worten wie auch mit Taten. Rilke war vorher noch Jungfrau, anschließend nicht mehr. Lou verbesserte den Stil von Rilkes frühen Schriften und ermunterte ihn, Russisch zu lernen, um Tolstoi und Turgenjew im Original zu lesen. Zur Jahrhundertwende unternahmen beide zwei Russlandreisen. „Durch Dich will ich die Welt sehen!“, schrieb er, „Denn dann sehe ich nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich, Dich …“. Bei so viel Liebe hatte Lou sich bald an Rainer satt gesehen, zumal dieser immer anhänglicher wurde und seine Angebetete mit Weinkrämpfen nebst „Angstverfassungen und körperlichen Anfällen“ nervte, sodass sie sich um seine psychische Gesundheit Sorgen machte – wie sie in ihrem Lebensrückblick notierte.

Sich um die Psyche anderer zu sorgen, das erwies sich tatsächlich als die stärkste Begabung der Lou Andreas-Salomé. 1911 erlebte sie in Schweden ein intensives Liebesabenteuer mit dem 15 Jahre jüngeren Nervenarzt Poul Bjerre, der sie mit Sigmund Freud (1856 bis 1939) bekannt machte. Freud, fünf Jahre älter als Lou (1861 bis 1937) und immer noch in seinen besten Jahren, sublimierte die sexuelle Attraktivität, die Lou nach wie vor ausübte, zu fachlichem Interesse. – Was ihm Kummer ersparte und wertvolle Erkenntnisse bescherte: „Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehörten der Psychoanalyse an, zu der sie wertvolle wissenschaftliche Arbeiten beitrug, und die sie auch praktisch ausübte. Ich sage nicht viel, wenn ich bekenne, dass wir es alle als eine Ehre empfanden, als sie in die Reihen unserer Mitarbeiter und Mitkämpfer eintrat …“.

Dass seine Muse auch mit den Theorien seiner Konkurrenten C.G. Jung und Alfred Adler liebäugelte (eine Todsünde aus freudscher Sicht), übersah er bei der schönen Lou gnädig.

Sinn und Sinnlichkeit moderner Musen

Weltberühmt wurde Anaïs Nin (1903 bis 1977) durch ihre Tagbücher und ihre erotischen Selbstenthüllungen. Zu ihrem posthumen Leidwesen würde ich sie trotzdem keine große Schriftstellerin nennen – aber eine große Muse. Die junge Kosmopolitin, die ihre Kindheit und Jungend in Havanna, Paris, Berlin, Brüssel, Barcelona und New York erlebte, traf mit Ihrem Ehemann, dem Bankier und Kunstmäzen Hugh „Hugo“ Guiler 1931 in Paris den ehrgeizigen aber noch unbekannten US-Schrifteller Henry Miller (1891 bis 1980) und dessen Frau June. Aus der spontanen Ménage à trois zwischen June, Henry und Anaïs entwickelte sich die bis dato wüsteste Bettgeschichte der Literaturgeschichte.

Beide waren begeisterte Leser der Romane von D.H. Lawrence (u.a. „Lady Chatterley’s Lover“), der seine These verfocht, dass nur hemmungslose Sexualität die gesellschaftlichen Zwänge sprengen könne. Schon mit Millers Roman „Wendekreis des Krebses“ (1934) bewiesen der Meister und seine beiden Musen, dass  sie die besseren Sprengmeister waren. Der Roman wurde sogleich in den USA und in England wegen Obszönität verboten, was ihn dauerhaft auf die Bestseller-Listen katapultierte.

Mehr noch als durch ihre orgiastischen Offenbarungen beflügelte Anaïs den aufsteigenden Autor vor allem darin, seine Schamlosigkeiten schriftstellerich zu Papier zu bringen. Sie diskutierte alle Passagen mit ihm, las Korrektur, verfasste ein Vorwort, lieh ihm ihre Schreibmaschine und übernahm die Druckkosten. Miller, von Sex und Success berauscht, schrieb weiter: „Schwarzer Frühling“ (1936) und „Wendekreis des Steinbocks“ (1939), Werke, in denen Phallisches und Philosophisches sich ergänzen. In „Stille Tage in Clichy“ (1956) schildert er jene Abenteuer, die ihm wie die Erstbesteigung des Mons veneris vorgekommen sein mögen. Er konstatiert: “Sex is one of the nine reasons for reincarnation. The other eight are unimportant.”

Anaïs Nins Erlebnisse finden Sie in 15 Tagebüchern (1914 bis 1974) ausgebreitet, vornehmlich in ihrem „intimen Tagebuch: Henry, June und ich“ (1931 bis 1932). Sicherlich war sie keine Autorin vom Rang der Marguerite Duras „Der Liebhaber“. Sie selbst bekennt mit kluger Zurückhaltung: „Die Rolle der Muse im Mythos war immer die der Inspiration“.

Zielsicher lenkte die 23jährige Amerikanerin Lee Miller 1929 ihre Schritte ins Pariser „Bateau Ivre“, um Man Ray ihre Mitarbeit anzubieten. „Nein, danke“, er brauche keine Praktikantin und sei zudem gerade im Begriff, zu verreisen. Tief blickte die schöne Lee in die Glubschaugen ihres künftigen Lehrmeisters und entgegnete keck: „O.K., dann komme ich mit“. Drei Jahre lang blieben beide ein Paar. Sie diente ihrem 17Jahre älteren Landsmann als Assistentin, Modell, Muse und Geliebte. Dieser, ursprünglich ein Maler, profitierte nicht zuletzt auch von der technischen Versiertheit der studierten Fotografin: Als Man Ray in der Dunkelkammer versehentlich Licht auf unentwickelte Negative fallen ließ, experimentierte Lee so lange mit ihm, bis sich das anfängliche Missgeschick in einen Musenkuss verwandelte. Die Idee der „Rayographie“ war geboren, durch die Man Rays Fotos unverwechselbar wurden. Die Elite des Montparnasse – von Marcel Duchamp bis Pablo Picasso – nahm Man Ray (der ursprünglich Emmanuel Radnitsky hieß) prompt in ihren Kreis auf. Er war der erste Fotograf, dessen Arbeiten man den Rang von Kunst zusprach.

Doch ließ sich Man Ray, der unersättliche, auch von anderen Musen und Modellen küssen, etwa von der androgynen Künstlerin Meret Oppenheim (1913 bis 1985) und der quirligen „Kiki de Montparnasse“ (Alice Prin, 1901 bis 1953). Als Modelle verhalfen ihm beide zu effektvolleren Bildern („Le Violon d‘ Ingres“ mit Kiki wurde Man Rays teuerstes Werk), da Lee Millers Schönheit schon so vollkommen wirkte, dass Kunst ihr kaum noch etwas hinzufügen konnte. Eine Ausnahme bildet jenes Doppelporträt, das Lee wie ein minderjähriges Mädchen auf dem Schoß ihres unerbittlich dreinblickenden Vaters zeigt (dessen sexuelles Opfer sie als Siebenjährige wurde).

Lee jedoch war bereits schon vor ihrer Bekanntschaft mit Man Ray ein gefragtes Mode-Model in der VOGUE und in VANATY FAIR. Und nach ihrer Trennung entwickelte sie sich zur begehrten Modefotografin und Foto-Künstlerin. In Jean Cocteaus Film „Le sang d’un Poète“ spielte sie die weibliche Hauptrolle.  Den Höhepunkt ihres Schaffens erreichte sie jedoch als Fotoreporterin im Zeiten Weltkrieg u.a. mit erschütternden Dokumenten aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau.

Nachdem Lee Miller 1947 den surrealistischen Künstler, Kunsthistoriker und Publizisten Sir Roland Penrose (1900 bis 1984) geheiratet hatte, mit ihm auf eine englische Farm gezogen und Mutter geworden war,  entsagte sie eigener künstlerischer Aktivität. Lee, die sich in Ihren späten Jahren zu einer exzellenten Köchen und Gourmet-Autorin entwickelte, inspirierte ihre Künstler-Gäste (u.a. Max Ernst, Paul und Nusch Éluard, Kurt Schwitters, Antoni Tàpies und nicht zuletzt Man Ray) nunmehr durch Feinschmecker-Freuden.

Yoko Ono (* 18. Februar 1933 in Tokio) machte sich dringend folgender Taten verdächtig: Hätte sie John Lennon (1940 bis 1980) niemals als Muse beglückt, wäre dieser 1. nicht als Künstler unsterblich geworden; und 2. seine Ermordung am 8. Dezember 1980 hätte vermutlich nie stattgefunden. Denn Yokos Musenküsse haben das Wirken ihres Beatles dermaßen beflügelt und verändert, dass aus dem  beliebten aber banalen Pop-Barden ein Mahner, Prediger und Aufrührer wurde.

Gleich nach ihrer Hochzeit am 20. März 1969  inszenierten Yoko und John ihr erstes „Bed-In“, eine Public Relation-Kampagne für den Frieden. John: „Da unsere Flitterwochen sowieso öffentlich sein würden, beschlossen wir, sie zu nutzen. Wir saßen im Bett und redeten mit den Reportern“. Beim zweiten Bed-In im Mai 1969 nahmen sie zudem ihre Single „Give Peace a Chance“ auf. Und an Weihnachten organisierte das engagierte Paar die Poster-Kampagne „War is over – if you want it!“ Beseelt von der These des Psychotherapeuten Wilhelm Reich (1897 bis 1957),  dass Sex und ungehemmte Liebe zur Nächstenliebe und zum  Weltfrieden, ja zur Weltrevolution führen können, hat das Paar zahlreiche liberale und radikale Bewegungen gefördert: Sie setzten sich u.a. für den Rückzug amerikanischer Truppen aus Vietnam ein, sowie für die Bürgerrechte farbiger US-Amerikaner und Indianer, auch für die Black Panthers.

Sogar musikalisch hat Yoko ihren John inspiriert – wenn nicht gar indoktriniert. Schon das 1968 erschienene „White Album“ zeigt ihren Einfluss. Und der Jahrhundert-Titel „Imagine“ erweist sich unverkennbar als Geisteskind der beiden. Nach Paul McCartneys Auskunft wollte er die Auflösung der Beatles (1971) nicht Yoko anlasten. Tatsächlich hatte John Lennon in der Zusammenarbeit keine Erfüllung mehr gefunden. Seine Sinnkriese manifestierte sich zunächst durch Rauschgiftkonsum, dann in der spirituellen Hinwendung zu einem indischen Scharlatan-Guru. Zwar hatte seine Beatle-Epoche ihm Ruhm und Reichtum eingebraucht, doch nicht seinen Hunger nach Relevanz stillen können. „Eine größere Fan-Gemeinde zu mobilisieren als Jesus“, war ihm kein wünschbares Ziel mehr, als er die Trivialität seines Tun erkannte: „Ich hasse es, für Idioten aufzutreten, die von nichts und wieder nichts eine Ahnung haben“.

Einer dieser Idioten namens Mark David Chapman ließ sich vor dem New Yorker Dakota Building (in dem nach wie vor Yoko Ono wohnt) von John eine Schallplatte signieren und erschoss ihn danach.

Neben Genies, Übermenschen und Egomanen kann kein dauerhaftes Glück gedeihen, schon gar nicht das einer feinfühligen Muse. Deshalb sind Musenküsse flüchtig, ihre Ehen instabil. Als die Britin Jane Birkin (*1946) in Paris auf den Literaten und Leichtfuß Serge Gainsbourg (Lucien Ginsburg, 1928 bis 1991) traf, entwickelte sich eine „Amour en passant“, beschienen vom Glück des Vergänglichen.

Die Liaison begann mit einem Chanson, das Gainsbourg für seine Verflossene, Brigitte Bardot, getextet und komponiert hatte. Doch das Sex-Idol, damals bereits mit Gunther Sachs verheiratet und auf dem Weg ins betuliche Großbürgertum, nahm Anstoß an Gainsbourgs Anzüglichkeiten. „Je t’aime … moi nun plus“ („Ich liebe Dich — ich Dich auch nicht“, 1969) schildert charmant aber schamlos das Liebesgeflüster eines Paares beim Ficken. Jane, die mehr einer Oberschülerin als einer Sexbombe glich, lieh dem Liedchen ihre Kleinmädchenstimme. Dieser frivole Funke entfachte ein Lauffeuer. Flammen der Begeisterung bei der gebildeten Jungend, die von Beat und dümmlichem Bum-Bum nichts mehr hören wollte. Und ein Höllenfeuer des Fanatismus bei all den sogenannten Rechtschaffenen und Frommen, denen die Vorstellung von Sex mehr Abscheu einflößte als selbst die Shoah.

Der Vatikan exkommunizierte den Produzenten der Platte, zahlreiche Radio-Sender verweigerten die Ausstrahlung. Doch „Je t’aime“ verkaufte sich über eine Million Mal, Jane und Serge waren plötzlich berühmt. 1975 drehten Gainsbourg und Birkin einen Film mit gleichem Titel für alle, die nicht nur zuhören, vielmehr auch zusehen wollten. Das Paar wurde zum Liebling der Intellektuellen von Saint- Germain, bald auch einer weltweiten Jeunesse-dorée, die nach Leichtigkeit ohne Seichtigkeit lechzte.

Mit „La décadence“ setzte das Duett seine erfolgreichen Frivolitäten fort. Im gleichen Jahr folgte mit „Histoire de Melody Nelson“ das erste Konzertalbum. Die weiteren Erfolge blieben auf Frankreich begrenzt: u.a. „Baby alone in Babylone“, „Les Dessous chics“ und „Fuir le bonheur“.

Nach der Trennung von Gainsbourg spielte Jane Birkin in Filmen, die ihr bei Cineasten Bewunderung einbrachten: u.a. unter der Regie von Agnès Varda, Jacques Rivette und ihrem späteren Mann, Jacques Doillon. Nach Serges Tod 1991 singt Jane im Casino de Paris ein Chanson, das an ihre gemeinsame Liebe erinnert. Es beginnt so: „Amour cruel – comme en duel“ („Grausame Liebe – wie im Duell“).

Notabene: Da Deine Muse Dir zugeneigt ist, wird Sie Dir viele Wünsche erfüllen – nur nicht die Ehe.

Greta Brentano

Dieser Text enthält bis auf jene durch „Anführungszeichen“ markierten Zitate keine wörtlichen Wiedergaben anderer Publikationen.

Zur vertiefenden Lektüre empfehle ich folgende Bücher:

Francine Prose „Das Leben der Musen“ © 2004 Nagel & Kimsche im Carl Hanser Verlag München und Wien

Annette und Luc Vezin „Musen des Jahrhunderts“ (Egérie dans l’ombre des créateurs) /C) 2002 Édition de La Martiniére, www.knesebeck-verlag.de

Farid Abdelouahab „Muses: Women Who Inspire“© 2012 Flammarion – amazon

 

Zwölf ebenso anmutige wie einfühlsame Musen der Gegenwart finden Sie unter: www.greta-brentano.de und www.greta-brentano.com

 

 

Vortrag am I. f. Erotosophie zu Berlin. Vortragende: Salomé B.

Lob der lustvollen Schwestern

 

Guten Abend meine Damen und Herren!

Darf ich bekannt machen? Nein, keine Person ist es, die ich Ihnen ankündige – sondern ein wissenschaftliches Phänomen. Dieses wird Ihnen zwar nicht unbekannt sein – was mein Unterfangen, es Ihnen vorzustellen zugegebener Maßen erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Doch wenn ich Ihnen nun sage, dass Erkenntnis auf Wiedererkennen beruht, dass wir also auch neues Wissen nur aufnehmen, wenn wir uns paradoxerweise an ein früheres Erlebnis erinnern? Dessen seien Sie also eingedenk, wenn ich Sie jetzt an das besagte Phänomen erinnere, das Ihnen bekannt sein dürfte, das aber bislang wenig beachtet, ja vernachlässigt geblieben ist – selbst an unserer überaus progressiven Lehranstalt… Doch ich komme nun zur Sache!

Der Mensch erscheint bekannter Weise symmetrisch gewachsen. Die Rede ist von der Symmetrie des menschlichen Körpers. Er hat eine Mittellinie – natürlich ist es nur eine gedachte Linie. Sie verläuft vom Scheitel bis zur der Stelle, wo die Beine abzweigen, und an der Wirbelsäule entlang wieder zum Scheitel. Links und Rechts dieser Spiegelachse sind die Gliedmaßen angeordnet, Arme und Beine, Hände und Füße. Es gibt eine linke Hand, die den Daumen rechts hat, und ihr Gegenstück auf der anderen Seite. Es gibt überhaupt nichts an unserer äußeren Gestalt, das sich der Symmetrie der Spiegelachse entzieht.

Jetzt werden Sie vielleicht sagen: Halt! Der Mensch hat wohl zwei Beine und Arme, aber doch nur einen Kopf! Dem will ich entgegnen: Gewiss, aber was findet sich in diesem Kopf? Zwei Gehirnhälften! Und auch der Kopf selbst ist durch und durch symmetrisch: links und rechts die Ohren – und das Gesicht mit seinen zwei Augen und Wangen. Zugegeben: Es gibt nur eine Nase, aber diese hat zwei Nasenlöcher! Es zeigt sich nur ein Mund, aber seine Lippen sind idealer Weise symmetrisch geschwungen. Je symmetrischer ein Gesicht, desto attraktiver erscheint es uns. Symmetrie bedeutet nicht nur Ordnung und Schönheit, sie ist auch notwendig für die Balance des Bewegungsapparats. Der Mensch verfügt über zwei parallele Füße mit spiegelgleich ausgefächerten Zehen; er hat zwei nahezu gleichlange Beine, die in ihrem Übergang in den Rumpf die Gesäßbacken bilden. Jene werden von der Mittellinie regelrecht gespalten, und dieses ausdrucksstarke Gebilde nennt sich korrekterweise und symmetrisch formuliert: Popo.

„Ein Po allein macht noch keinen Analverkehr!“, wie unser ehrwürdiger Dekan kürzlich in seiner Habilitationsschrift konstatierte. Auch die Geschlechtsorgane sind Objekte besonders raffinierter Spiegellungen: Zwei Hoden entsprechen zwei Paar Schamlippen. Aber warum gibt es immer nur einen Penis und nur eine Vagina? Auf diesen Einwand habe ich natürlich gewartet, aber so leicht irritiert man mich nicht, denn immerhin dürfte doch auch einem Blinden auffallen, dass sich diese beiden, nennen wir sie Organe, genau auf der Mittellinie befinden, auf der gestrengen Symmetrie-Achse, von der ich nicht unbedingt behaupten möchte, sie wäre die Leitlinie unserer äußerlichen Gestalt, aber als von einem Grundgesetz würde ich bei der Symmetrie schon sprechen wollen.

Wie sieht es nun im Inneren des Körpers aus? Zwei Mandeln, Bronchien, Lungenflügel, auch zwei Nieren – wundervoll! Symmetrisch angeordnet – alles Bestens. Aber sonst, man fasst es kaum: komplettes Chaos! Wie seltsam und unförmig sind die inneren Organe! Nur eine Leber, ein Magen und auch nur ein Herz! Und sonst ein wirres Geschlinge von Gekröse, dessen Hässlichkeit und Unordnung im krassen Widerspruch steht zur äußeren Gestaltung des Menschen. Warum dieses innere Tohuwabuhu? Es ist ja gerade so, als hätte jemand in das äußerlich fertige und symmetrisch perfekte Wesen die restlichen Organe einfach so hineingestopft – wenigstens den Darm hätte man doch zu einer ordentlichen Rolle aufwickeln können… aber wer wäre hier schon ernsthaft zur Verantwortung zu ziehen? Etwa Gott, dessen Existenz wir an unserer Universität so entschieden negieren? – doch ich schweife ab…

Ich möchte mich nun einem besonderen Bereich des Körpers widmen, wo die Symmetrie den Höhepunkt ihrer Präsenz erreicht: Dies ist der Brustbereich. Der Busen, meine Damen und Herren! An diesem befinden sich zwei Punkte – einander gegenüber gemäß der Symmetrie. Sie sind erhaben, zart oder intensiv gefärbt, sie sind delikat – Sie werden mir zustimmen, dass sie eine Zierde sind. Von der deutschen Sprache wird diese Zierde undankbarer Weise mit der Bezeichnung Brustwarzen verunziert. Warzen! Eine der schmucksten Körperstellen des Menschen muss sich mit einer Hautkrankheit gleichsetzen lasse! Doch ich kann mich hier nicht damit aufhalten, sämtliche sprachliche Missstände anzuprangern, die am Rande des Weges der Erkenntnis liegen.

Die Symmetrie der Brustwarzen ist nicht nur eine optische, sondern auch, wie ich gleich demonstrieren werde, eine nervlich-sensuelle. Denn was hier eine Seite empfängt, dessen bedarf immer auch die andere. Streift man eine der beiden Brustwarzen mit dem Finger bloß zwei oder drei Mal, so wird sich nicht nur eine gesteigerte Sensibilisierung bei dieser einstellen, sondern auch ein Gefühl des Bedarfs, der Vernachlässigung und des Mangels von Seiten ihrer symmetrischen Schwester. Ganz anders, wenn man sich ein Auge reibt: Hat man dann sogleich das Bedürfnis, auch das zweite zu reiben? Oder würde etwa das Zupfen an einem Ohrläppchen ein unwiderstehliches Verlangen in seinem Brüderchen auf der gegenüberliegenden Schädelseite auslösen? Davon kann doch gar nicht die Rede sein! Und auch unsere Beine ertragen gern ein ungleiches Maß an Beanspruchung, weshalb es ja kaum etwas ausmacht und auch nicht an der Weltordnung kratzt, dass es ein bevorzugtes Sprungbein gibt.

Bei den Händen ist die Ungleichheit bestimmend, und sie hängt auf verschlungenen Wegen mit den beiden Hälften oder Seiten des Gehirns zusammen, kurz: Die ganze Körpersymmetrie hat keine nervlich-empfindsame Übereinstimmung, nur bei den Brüsten gibt es dieses typische Streben nach Harmonie wie bei eineiigen Zwillingen. (Hat sich nicht einst ein poetischer Kopf, der von den Brüsten seiner Geliebten sprach, zu einem Vergleich wie „zwei Rehzwillinge“ verstiegen?). Die Reizung in der einen erhöht nicht nur deren eigene Empfindsamkeit und schürt das Verlangen nach weiteren Stimuli, sondern sie bewirkt dies ebenso in der anderen, der nicht berührten Zwillings-Mamilla. Optisch lässt sich dann bei der gereizten Brustwarze eine Verhärtung und Erhebung feststellen, die bald darauf auch die andere ergreift. Nicht zu Unrecht wird diese Reaktion als Erektion der Brustwarzen bezeichnet. Je länger die einseitige Stimulans anhält, umso dringender wird das Bedürfnis nach Ausgleich, nach Gerechtigkeit. Man versuche es deshalb auch durch Kitzeln, Kneifen oder Beißen. Möglichst sollten zunächst die zaghaften und zärtlichen Berührungen erfolgen, hernach die immer stärkeren.

Ein idealtypischer Reizverlauf stellt sich, zumindest für meine Person, folgendermaßen dar: Erst sollte die Spitze der noch nicht erigierten Warze leicht beklopft oder angetippt werden, dann sanft gestreichelt, bis sich eine Erektion derselben einstellt. Danach: Umkreisen mit dem Finger sowie zunächst sanftes, dann stärker werdenden Kneifen. Das Kneifen darf längere Zeit anhalten, da es die Durchblutung anregt. Damit ist die Warze vorbereitet auf den Einsatz der Zunge und der Zähne, auf Lecken und Nagen, das sich in der Intensität behutsam steigern sollte, über mindestens fünf Minuten. Schließlich ist die Erektion der Warze auf das Umfeld der jeweiligen Brust übergegangen, und die solchermaßen hart angeschwollene Brust verträgt, ja verlangt nach noch stärkerem Kneifen, nach Kneten mit Fäusten und sogar nach Schlägen. Spätestens an diesem Punkt wird sich bei sensiblen Menschen mitunter ein schlechtes Gewissen einschleichen, jedoch nicht aus Mitleid mit der traktierten Brust, sondern mit der anderen, die man vernachlässigt hat, und deren Gleichbehandlung man schleunigst nachholen sollte, ohne sich erst bitten zu lassen. Nur die ganz unbegabten Anfänger im Bereich der Busenerotik muss ich immer noch ermahnen: Die andere Seite auch!

Auf diese Weise erreichen wir das Stadium neuro-sensitiver Symmetrie, welches undenkbar wäre bei etwa einem Kuss auf die Wange, und das einzig und allein im Bereich der Brustwarzen zu beobachten ist.

Dieses Phänomen, das Ihnen zwar nicht unbekannt sein dürfte, an das ich Sie aber dennoch erinnern möchte, wird von der Forschung so wenig beachtet, dass es noch nicht einmal einen Namen hat. Darum sieht die Verfasserin sich in der Pflicht, es nun wissenschaftlich auf den Begriff zu bringen.
Intuitiv ist man vielleicht geneigt, es einfach Gleichseitigkeit zu nennen – doch dieser Begriff gehört bereits der Wissenschaft der Geometrie, wo er beispielsweise für Dreiecke angewandt wird. Um eine Verwechslung mit jener besonderen, sehr exakten Gleichseitigkeit der Mathematik auszuschließen,  nehme ich also Abstand von dieser Vokabel. Als Alternative bietet sich an, dem in Frage stehenden Phänomen den Namen Beidseitigkeit zu verleihen. Dies erwägend, fiel mir jedoch die Unsinnigkeit des aus der Umgangssprache stammenden Ausdrucks auf, da es sich dabei um nichts geringeres als eine Dopplung handelt – denn wenn von Seiten die Rede ist, so ist es evident, das es nicht nur eine, sondern (mindestens) zwei geben muss, und beide im Begriff gemeint sind – sonst müsste man wohlweislich von Einseitigkeit sprechen.

Jacopo Robusti „Tintoretto“: Bildnis einer Frau mit entblößter Brust
Jacopo Robusti „Tintoretto“: Bildnis einer Frau mit entblößter Brust

Der Begriff Beidseitigkeit erscheint mir daher unsinnig; ein solcher Terminus sollte zumindest aus wissenschaftlichen Kontexten verbannt werden. An diesem Punkt der Überlegung liegt der richtige Begriff aber nun endlich auf der Hand:

x (unbekanntes Phänomen) sei genannt: Die Seitigkeit.

Definition D(x): Die Seitigkeit beschreibt die besonderen, diplomatischen, nervlich-sensuellen Beziehungen zwischen der linken und rechten Brustwarze.

Sicher wird diese profunde Erkenntnis in der progressiven Atmosphäre unserer Universität auf fruchtbaren Boden fallen. – Ich Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

Erwiderung des Prof. Dr. P.

Leiter des Graduiertenkollegs für Historische Perversionen und des Sonderforschungsbereiches für Sexualpragmatismus

 

Geschätzte Kollegin – Madame!

Zunächst beglückwünsche ich Sie zu Ihrem wissenschaftlichen Ehrgeiz, mit dem Sie zügig voranschreiten, unsere Fakultät zu bereichern! Bei zahlreichen Veranstaltungen im Rahmen des Instituts sind Sie uns bereits mit Ihrer Spontaneität und Ihrer, nun, nennen wir es Frische, positiv aufgefallen. Dies sei vorausgeschickt, und auch die Versicherung meiner persönlichen Sympathie, wenn ich mir nun erlaube, kritisch auf Ihren Beitrag einzugehen:

Wenn von einer Symmetrie in Bezug auf den Menschen die Rede sein soll, dann kann dies bei diesem konkreten Wesen nur näherungsweise zutreffen, die Werte liegen im Bereich der Annäherung. Daraus machen Sie nun, wenn ich mir den Kalauer erlauben darf, vor allem die Annäherung des einen Menschen an den anderen bzw. der potentiellen Geschlechtspartner.  Ich bitte Sie, verehrte Kollegin, die Reizbarkeit der von ihnen bezeichneten Drüsen ist nicht in einem ästhetischen Konzept wie dem der Symmetrie begründet, sondern hat seine guten Gründe an anderer Stelle. Auch den Begriff, den Sie gefunden haben, erscheint mir etwas unglücklich: „Seitigkeit“ – das erinnert bei ungenauem Hinhören doch zu sehr an Seichtigkeit, finden Sie nicht?  –

Peter Paul Rubens: Cimon und Pero 1625
Peter Paul Rubens: Cimon und Pero 1625

Liebe Freundin,  Sie haben Ihre Brust nicht nur zum Spaß! Was Sie mit Ihren Überlegungen vollständig vernachlässigen, ist der Säugetieraspekt, die animalische Natur von uns allen. Der Mensch ist, solange nichts Gegenteiliges festgestellt wurde, ein Tier, und zwar ein Säugetier – so genannt, weil wir genau wie andere Säugetiere uns an den Brüsten unserer Mütter genährt haben. Dass die Frau zwei Brüste hat, erkennen wir als Ergebnis der Evolution: Dieses eine Paar ist den Hominiden geblieben von den vielfachen, reihenweise angeordneten Brüsten, bzw. Zitzen beispielsweise mancher Huftiere. Die Ursache begründet sich durch die im Verlauf der Höherentwicklung der Gattungen abnehmende Größe des Wurfes – mich amüsiert übrigens dieses Wort: Wurf – als ob die Mutter ihre Neugeburt von sich schleudern würde!

Nun ja. Jedenfalls, der von Ihnen so aufgeweckt entdeckte Zusammenhang der Reizbarkeit dient dem saugenden Säugling, und zwar nicht bei einem ziellosen, gar hedonistischen erotischen Kontakt, wie Sie es beschreiben, sondern dem Saugen von Muttermilch. Warum, glauben Sie, inspirieren Brüste wie die Ihrigen zu diesem sentimentalen, für die sexuelle Reproduktion komplett irrelevanten Nuckeln? Es ist die Erinnerung, oder das Wiedererwachen eines Urinstinkts! Das Nuckeln des Neugeborenen an der einen Brust regt die Milchproduktion in der andern Seite mit an. Eventuell ergreift der Säugling auch die Gelegenheit, während des Trinkens nach der benachbarten Brustwarze zu grapschen und damit zu spielen. All dies führt dazu, dass die zweite Brust schon auf das Stillen vorbereitet ist, wenn der Milchfluss in der ersteren versiegt, und die Mutter ihr Kind gewissermaßen an der Ersatzbrust anlegt.

Spontane Äußerung der Nachwuchsforscherin B., die es ihr Wert erscheint, ins Protokoll dieser Sitzung aufgenommen zu werden:

Oh, ich gebe es ja zu – Sie haben mich ertappt! Der Gedanke an Mutterschaft war mir in Anbetracht meiner Brüste noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ein klassischer Fall von Verdrängung, wie mir jetzt aufgeht. Muss ich mich einer Psychotherapie unterziehen?

 

Kommentar von Heiko B. Berlin (August 2013)

Was Prof. Dr. P. allerdings übersehen hat, ist die ‚erotische‘ Komponente der Stimulation. Für das Fortpflanzen (wieso eigentlich “pflanzen”?!) und Säugen ist diese ja wohl gänzlich unnötig, und dass die Paarhufer die Zitzen ihrer Damen mit den Hufen zur Brunft stimulieren wäre mir doch neu! Wohl war ihm nicht präsent, dass von den Brüsten der Frauen die ganz besondere Energie ausgeht, die ihre köstlichen Organe der Lust im Bauch zum Glühen bringen. Und zwar symmetrisch. Schließlich haben Frauen keine Doppelreihen-Motoren, die auch funktionieren, wenn eine Zylinderreihe keine Zündung erfährt! Daher behaupte ich, dass es sich hier um eine zutiefst in sich verbundene Einheit von – wenn auch verteilten – Körperteilen handelt. Schließlich gibt es keine linke oder rechte Seite der Lust!

Außerdem unterscheidet den Menschen vom Tier eben genau die Freude an der Lust ohne den Zweck des Säugetierischen, mithin ganz irrational, subjektiv und – göttlich! Falls das noch nicht überzeugen sollte, gestatte ich mir noch den Hinweis auf den besonders erotischen Bereich der analen Freuden. Hier ist wohl keinerlei Argument mehr zu finden, wozu das evolutionär oder sonst wie seriös gut sein sollte. Aber wozu auch? Hier ist in Steigerung des Bisherigen sogar eine Punktsymmetrie zu genießen, deren gekonnte Stimulation durchaus zur (positiven) Weißglut führen kann. Wenn das nicht göttlich-menschlich ist, was dann? Und was interessiert uns dann eigentlich noch das mit dem Säugetierischen.

_____________________________________

Buchtipp: Philip Roth „The Breast“ (Die Brust)
Holt, Rinehart & Winston, New York 1972

Übersetzung: Kai Molvig
Carl Hanser Verlag, München / Wien 1979
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2004
ISBN 3-499-23833-0, 94 Seiten, 6.90 € (D)

 

 

Béjarts „Ring um den Ring“ – ein Nachwort

So leichtfüßig kann ein Schwergewicht sein

„Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde“, lässt Friedrich Nietzsche seinen Zarathustra sagen. Warum dann nicht gleich den ganzen germanischen Götterhimmel das Tanzbein schwingen lassen? Warum nicht den dahindämmernden Göttern in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ein Ballett zu Füßen legen?

Maurice Béjart hat es gewagt, Wagners schwergewichtiges Gesamtkunstwerk  auf die schwerelosen Füße der Tanzkunst zu stellen. Über die Uraufführung von 1990, die Béjart explizit für das Berliner Staatsballett choreographierte, schrieb Rolf Michaelis in der ZEIT-online (Ausgabe 12/1990): „ … eines der gewaltigsten Tanz-Projekt der Ballettgeschichte. … Nur dankt Béjart … als Choreograph ab. Tanz findet nur selten statt – und wenn, dann als … Ringel-Ringel-Reihen, als akrobatische Turnerei, als kitschiger Reigen …“. Man konnte meinen, der Giftzwerg Alberich persönlich habe ihm die Feder geführt. Tatsächlich war Michaelis jedoch eine Kritiker-Kapazität und ein qualifizierter Wagner-Experte. Man sieht: Ein Elefant irrt sich gewaltig!

 

Wer Wagner zu ernst nimmt, missachtet ihn

„Es ist ratsam einzusehen, dass der Künstler … kein absolut ernster Mensch ist. … und dass Tragödie und Posse aus ein und derselben Wurzel kommen …“*. Mit solchen Worten versuchte Thomas Mann zu Wagners 50. Todesjahr 1933 Frischluft in die Nazi-Köpfe der damaligen Wagnerianer zu pusten und erntete den wutentbrannten Protest von Hans Knappertsbusch, Richard Strass und Hans Pfitzner.

Doch gerade im „Ring“, wo Wagner das Paradoxe von Mythos und Morbidezza als plausible Konsequenz erkennen lässt, kann der Pathos der Ideologie nicht ohne Ironie vorgetragen werden. Seit der Antike war der Mythos ja eine Geschichtsfälschung zur Rechtfertigung und Verherrlichung von Krieg, Raub, Völkermord und Vergewaltigung (wie wir bei Klaus Theweleit dezidiert nachlesen können**).

Durch einen Wust widerstrebender Gefühle lässt Wagner sein Opernpublikum diesen Wahn miterleben – und seine Dekadenz. Im Vollrausch der Emotionen erfahren wir deren Fadenscheinigkeit. Inspiriert von Schopenhauers Skeptizismus, macht Wagner jenen Zersetzungsprozess hörbar, der dem historischen Größenwahn eigen ist. Anders aber als etwa Kant mit dessen „Kritik der reinen Vernunft“ konfrontiert Wagner uns mit einer Kritik des Wähnens und Wahnsinns: „Wahnheim flieh ich auf immer“ (Wotan im Schlussakt).

Da mag sich der Leser fragen, wie ein Adolf Hitler ausgerechnet zu Richard Wagners Anbeter werden konnte. Unfähig zur Ironie und bar jeden Humors hat Hitler sein Idol verkannt. Wäre ihm sonst entgangen, dass Wagner ein Pendant des „Gröfaz“ im „Ring“ ebenso scharfsinnig wie trefflich karikiert hat: als Zwerg Alberich.

 

Ballet der Liebe, der Lust und des Gelächters

Gleich zu Beginn, wenn Loge als Götterbote und gewitzter Luzifer auftritt, ahnen wir, dass dieser „Ring“ auch eine Revue sein könnte und Maurice Béjart uns vielleicht die Nähe von Richard Wagner und Jaques Offenbach augenzwinkernd nahelegen will. Doch spätestens wenn Brünnhilde mit Ihrer Kampftruppe die Bühne erobert und sich im eng anliegendem Leder-Fetischkostüm mit laszivem Hüftschwung als Domina zu erkennen gibt, bricht Gelächter bei den Zuschauern aus. Ein befreites Lachen. Dieser Fünfstunden-Abend verspricht kurzweilig zu werden. Trotz Götterdämmerung kein Gottesdienst.

Zur Polit-Satire mutiert das Stück, wenn Fafner als chinesischer Drache, ein Gott und Weiser – statt als Lindwurm – Siegfrieds Revolte zum Opfer fällt. Die neue Ordnung besiegt die alte. Doch Siegried im naiven Fieber der Revolution, hört nicht auf des Weisen Warnung. So wird auch er wie alle Revolutionäre der Korruption und dem Verrat zum Opfer fallen. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte, den Béjart vor allem durch den Auftritt des Paares Krimhild – Alberich pointiert: Pelzbehangen und hinkefüßig (mit Balletschuh links und High-Heels rechts) zeigt sich die Mutter des Siegfried-Mörders Hagen als Inbegriff der korrupten, dem Erfolg verfallenen Künstlerin. So geht schließlich die ganze Bande der Promis, Götter und Helden zum Teufel. Als Hoffnung bleibt nur die Liebe.

 

Wahre Liebe, sittenwidrig und wunderbar.

Für Maurice Béjart ist sein „Ring um den Ring“ ein „körperlicher Kommentar“ zu diesem Meisterwerk des Geistesriesen Wagner. Alles Monströse meidend (und Wagners Musik deshalb nur per Lautsprecher oder als Klavierauszug zitierend) gelingen ihm die schönsten und sinnlichsten Partien dort, wo es um Liebe geht. Vor allem um Sex: Wie ein bekifftes Woodstock-Pärchen in fetzigen Jeans fallen die Geschwister Sieglinge und Siegmund liebestrunken übereinander her.

Und Göttervater Wotan macht keinen Hehl daraus, dass er seine Tochter Brünnhilde auch unterhalb der Gürtellinie liebt, und wenn diese mit ihrem Halbruder Siegfried auf einem Bechstein-Flügel sich von ihrer Keuschheit befreit, führen uns beide vor, wie bieder die Stellungen des Kamasutra doch sind, verglichen mit diesem pikanten Pas de deux von Nadja Saidakova und Michael Banzhaf.

Hat man Wagner je so sinnlich erlebt? Wohl kaum. Doch wie das Bayreuther Genie so ist auch Béjart der Typus Lustmolch, der von sich und seinem Ensemble Höchstleistung fordert. Allen Tänzern gibt er ihre eigene Gesten-Sprache, allen Themen (das Rheingold, der Ring, die Liebe, der Verrat …) ihre spezifische Choreographie – analog zu Wagners Leitmotiven.

 

Hundertzwanzig Beine und kein Fehltritt

„Doch leider hat Béjart den Schwenk zum Kapriziösen leichtfertig verspielt, indem er … die 120 Beine seiner Truppe … nur zur Verstärkung von Wagners Story, nicht aber zu deren frecher Kontrapunktion nutzt“, lästerte Klaus Umbach über die Uraufführung 1990 in DER SPIEGEL.

Nur wenig hat sich bisher am Stück, jedoch sehr viel im Auge des Betrachters verändert. Statt die Verwurstung Wagners zu wollen, erfreuen wir uns an der Leichtigkeit des Seins, die uns trotz aller Tragödie Trost verheißt. Wir verdanken sie vor allem jener Leichtigkeit des Scheins den das Berliner Staatsballett über annähernd fünf Stunden bewahrt. Nur wer in der ersten Reihe sitzt, sieht: Hier wird schweißtreibend geschuftet. Doch die Solisten wie das Corps de Ballett tanzen wie zum Vergnügen, leichtfüßig und ohne Fehler.

Vladimir Malachow hat sein Ballett auf Weltspitzen-Niveau trainiert. Nur den Berlinern vertrauen die künstlerischen Erben des Maurice Béjart (Elisabeth Cooper, musikalische Leitung) und Bertrand d’At (choreographische Einstudierung) das Opus Maximum ihres 2007 verstorbenen Dionysos an. Und die Zuschauer wissen – und hoffentlich weiß es auch das Kulturreferat – was Berlin dem weggelobten Malachow zu verdanken hat.

 

Die Besetzung:

Loge: Reiner Krenstetter; Brünnhilde: Nadja Saidakova; Wotan: Dmitry Semionov; Siegfried: Michael Banzhaf: der junge Siegfried: Marian Walter; Alberich: Vladislav Marinov; sowie weitere Solisten und das Corps des Ballett des Staatsballetts Berlin; Choreographie: Maurice Béjart; Einstudierung: Bertrand d‘At; Szenarium: Philippe Godefroid und Maurice Béjart; musikalische Leitung und am Flügel: Elisabeth Cooper; Musik: Richard Wagner; Sprecher und Conférencier: Michael Denard.

Vorstellung vom 19. April 2013 in der Deutschen Oper Berlin.

(Text: Greta Brentano)

Links: Staatsballett Berlin www.staatsballett-berlin.de

Quellen: * Thomas Mann.: „Leiden und Größe Richard Wagners,“ in Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 9. S. Fischer, Frankfurt 1974 ISBN 3100481771 S. 363 – 427; als TB z. B. ebd. 1995 ISBN 359610310X

** Klaus Theweleit:  „Männerphantasien“  2 Bde., Verlag Roter Stern/Stroemfeld 1977, 1978, Lizenzausgabe als TB bei Rowohlt 1983−94, DTV, Piper 2000. Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, 1977. Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, 1978.

Klaus Theweleit: „Der Pocahontas Komplex“  (auf 4 Bände angelegt) „ Buch der Königstöchter“. Von Göttermännern und Menschenfrauen. Mythenbildung vorhomerisch, amerikanisch. Stroemfeld, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-87877-752-6.

Empfehlungen: Peter Wapnewski: „Der Ring des Nibelungen“, Richard Wagners Weltendrama. Piper Taschenbuch, 336 Seiten, € 13,99 ISBN-10: 3492226299 und ISBN-13: 978-3492226295

Loriot erzählt Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ( und Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker); Audio-CD, Verlag: Universal Music; € 23,99; ISBN-10: 3932784359; ISBN-13: 978-3932784354

 

Kussechte Liebe

Ein erotisches Lippenbekenntnis von Greta Brentano und Carlos Obers.

Greta:
Kussechte Liebe? Seltsamer Titel. Ich kenne nur kussechte Lippenstifte.

Carlos:
Du kannst Sex haben mit jemanden, ohne ihn zu lieben. Aber echte Zungenküsse sind doch immer auch ein Zeichen für echte Zuneigung.

Greta:
Ich bin eine Muse, eine Mätresse. Ich küsse Männer und Frauen, und es sind nicht immer dieselben. Das sei obszön, wurde mir schon vorgeworfen.

Carlos:
Vielleicht war es kein Vorwurf, sondern ein Lob?

Greta:
Worüber diskutieren wir hier überhaupt?

Bronzono „Il Baccio di Venere e Cupodo“ 1545-50 ©National Gallery London
Bronzono „Il Baccio di Venere e Cupodo“ 1545-50 ©National Gallery London

Carlos:
Ich habe eine These: Der Kuss ist nicht so harmlos wie er in der Literatur, im Film oder im Sprachgebrauch erscheint. Anders als Genetiker, Hormonforscher und Biologisten uns weismachen wollen, dient der Kuss keineswegs der Vorbereitung zur Fortpflanzung. Er ist reines Vergnügen. Also pervers.

Greta:
„Pervers“ heißt wörtlich „Verdrehung“. Was verdreht denn ein Kuss?

Carlos:
Es begann vermutlich mit dem Atzkuss: Die Steinzeitmutter fütterte ihr Steinzeitkind, indem sie Speisen vorkaute und ihm in den Mund schob. Heute schieben sich Liebespaare die Zunge in den Mund. Aber nicht um satt zu werden. Es ist eine Reminiszenz.

Greta:
Da habe ich schon ganz andere Perversionen erlebt.

Carlos:
Wessen Zahnbürste würden wir benutzen, fragt schon Karl Kraus, gar wessen Spucke trinken? Doch der Kuss verkehrt das allgemeingültig Ekelhafte ins Appetitliche.

Greta:
Zum Küssen gehört neben dem Zungenkuss ja auch der Peniskuss („Fellatio“), der Schamlippenkuss („Cunnilingus“) und der Hexenkuss („Anilingus“), den deutsche Schüler dank Goethes “Goetz“ schon frühzeitig kennenlernen. „Deine Zunge ist in meinem Mund wie Wildheit des Meers“ lesen wir bei Saint-John Perse (französischer Dichter und Diplomat).

Carlos:
Dass Köperöffnungen, die gewöhnlich der Nahrungsaufnahme oder der Ausscheidung dienen, den liebestollen Zungen delikat vorkommen, erscheint mir doch bemerkenswert, wenn nicht gar grotesk.

Carlos Obers© „Les Langues d’ Amour”, Rötelskizze 2005
Carlos Obers© „Les Langues d’ Amour”, Rötelskizze 2005

Greta:
In der griechischen Antike gab es sogar Tempel, wo man der Aphrodite-Statue zungenanal zu huldigen pflegte. Rein religiös und vergeistigt, versteht sich.

Carlos:
Adorations-Küsse sind ein Thema für sich. Auch das Küssen von Ikonen, Büchern, Ringen und Statuen, denen Heiligkeit zugesprochen wird, halte ich für sublimierte Erotik, wie etwa den Kuss des nackten Ecce Homo am Kreuz. Irgendwie sympathisch, dass selbst Gottesliebe nicht ganz körperlos ist.

Greta:
Mich interessiert der erotische Kuss – eine Errungenschaft der antiken Hetären und Homosexuellen. Ehefrauen blieben ungeküsst – wie heute ja auch noch so oft.

Carlos:
Die Antike kannte auch die platonische Liebe.

Greta:
Womit Platon allerdings die Knabenliebe meinte, keineswegs die Keuschheit.

Carlos:
Die „griechische Liebe“ gilt in vielen Kulturen nicht als Sexualität, auch nicht als Ehebruch, da der Po ja nicht der Fortpflanzung dient, also kein Geschlechtsteil ist. Etwa bei den sittenstrengen Hindus, die dafür extra ein drittes Geschlecht kreiert haben: die Hijras.

Greta:

Doch schon das Kamasutra (3. Jh. vor Chr.) preist die gehobene Prostituierte, die „Ganika“, die kein entmannter Galan ist, vielmehr eine mit allen weiblichen Reizen ausgestattete Berufsgeliebte: „Festen Sinnes“ sei sie, „geistig ebenbürtig dem Manne führe sie einen nicht habsüchtigen Wandel, liebe Konversation und Geselligkeit“.

Carlos:
Erotik stimuliert auch den Kopf, Sex nur den Unterleib.

Greta:
Wer geküsst wird, den küsst auch die Muse. „Liebe, Liebe, Liebe – das ist der Geist des Genius“ heißt es bei Mozart.

Carlos:
Doch küssen kann man nicht allein. Was empfiehlst Du unseren Lesern?

Greta:
Nehmen Sie sich die Muße für eine „Muse“! Denn kluge Frauen küssen besser.

Zur Vertiefung Ihrer Küsse und Ihrer Kenntnisse darüber empfehlen wir gemeinsam:

Alexander Lacroix „Kleiner Versuch über das Küssen“ (Original-Titel: „Contribution à la Théorie du Baiser“) Verlag Matthes & Seitz Berlin 2013, bei AMAZON gebunden oder bei KINDLE € 16,90

ISBN-10: 3882210338 / ISBN-13: 978-3882210330

Otto F. Best „Vom Küssen. Ein sinnliches Lexikon“, Verlag RECLAM Leipzig 2003, ISBN 3-37920056-5

Alain Montandon „Der Kuss. Eine kleine Kulturgeschichte“ (Original-Titel: Le Baiser““), Verlag WAGENBACH Berlin 2006, ISBN 3-803-12549-9

Lea Singer „Die Zunge“, Roman, Verlag J.G. Cotta‘sche Buchhandlung Stuttgart , Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, ISBN3-423-12954-9